Der Grenzgänger

Edi Theiler reiste letztes Wochenende nach Ungarn, um Flüchtlingen zu helfen. Für ihn gab es gar keine andere Wahl.
Edi Theiler in seinem VW Bus: “Ich bin ein Mensch. Ein Mensch mit Herz”. Bild: René Ruis

Gedankenverloren streichelt Edi Theiler die glatte Oberfläche seines VW-Busses. «Ich musste einfach gehen», sagt er plötzlich und schaut auf. Der durchdringende Ausdruck in seinen Augen lässt keine Zweifel zu.

Es war das Bild des ertrunkenen Aylans, das ihn am letzten Wochenende an die serbisch-ungarische Grenze trieb:

«Keine Frage. Ich musste endlich weg von der Zuschauerrolle. Viel zu lange schaute ich einfach zu.»

Zusammen mit den zwei Freunden Balz Willen und Thomas Gerber packte Theiler seinen Bus voll mit Decken, Schlafsäcken, Zelten, Jacken und Schuhen, auch Farmerstängel hatten Platz. Alles Spenden von Freunden oder Firmen, die auf seinen Facebook-Post reagiert hatten.

Mit einem Ruck öffnet Theiler die Seitentür des weissen Wagens. Nachdenklich schaut er ins Innere. Es scheint, als fühle er sich noch immer im Grenzdorf Röszke. Unter syrischen Flüchtlingen, erschöpft und verzweifelt. «Als ob wir in einen laufenden Fluss geworfen würden. Wir mussten sofort schwimmen lernen», sagt Theiler. Komplett überfordert seien sie anfangs gewesen. Doch für Zögern gab es keine Zeit. «Nur wenn du richtig entschlossen bist, vertrauen dir die Flüchtlinge.» Und nur dann helfe Hilfe wirklich.

Schlepper warteten schon auf die erschöpften Flüchtlinge

Dieses Vertrauen war besonders wichtig in der Nacht. Wenn neue Flüchtlingsfamilien ankamen und sie die letzten 500 Meter zu Fuss von der Grenze zum Camp gehen mussten. «Freiwild für die wartenden Schlepper», sagt Theiler. Doch wie konnten die Helfer verhindern, dass die erschöpften Flüchtlinge sich nicht in die Schlepper-Autos fallen liessen? «Ich konnte ja auch nicht einfach einen Stecken nehmen und auf die Schlepper eindreschen», sagt Theiler. Seiner Entschlossenheit verdanke er schliesslich, dass es geklappt habe, die Flüchtlinge weg von den Schleppern zu führen. Ein Erlebnis, das Theiler tief berührte: «Sie hatten ja keine Ahnung, was mit ihnen passiert. Null.»

Wenn Theiler spricht, hängt er am Satzende oft noch etwas an. Nicht als Ergänzung. Sondern als Bestätigung. Es scheint, dass es für ihn gar keine andere Option gibt. «Dass ich nach Ungarn gegangen bin, ist für mich keine Leistung. Es ist selbstverständlich.»

Theiler wünscht sich, dass der Bundesrat vor Ort geht

Theiler ist Gründer und Chef einer Firma für Medizinprodukte. Wie kommt ein CEO und Familienvater dazu, spontan das Wochenende in einem Flüchtlingscamp zu verbringen? «Ich bin ein Mensch», antwortet Theiler. Und hier kommt es wieder, das bestätigende Satzende: «Ein Mensch mit Herz.» Nur darum ginge es jetzt in diesem Drama. Nicht ums Abwägen von Meinungen und Positionen. Theiler wünscht sich, dass der Bundesrat selbst vor Ort geht, bevor er Entscheidungen trifft: «Denn die Regierung ist eingebunden in Rechtssysteme und Wahlpropaganda. In Dinge, die sie weit weghalten von ihrer Menschlichkeit. Vom Menschsein.»

Allein das stehe im Fokus, «denn es spielt einfach alles keine Rolle mehr. Keine Religion, keine Meinungen.» Purer Zufall, welche Familien Theiler auf dieser kurzen Reise getroffen hat. Familien und Einzelpersonen. Ganz verschiedene Menschen. Viele gut ausgebildet. «Das ist schon heftig. Sie alle hatten eine Existenz, ein Selbstwertgefühl. Und jetzt müssen sie durch diese schreckliche Mühle.» Eine Begegnung ist Theiler besonders eingefahren. Ein Familienvater kam am Morgen nach einer intensiven Nacht auf ihn zu und fragte: «Was soll ich jetzt tun?» Theiler wurde überrumpelt und konnte nicht anders als weinen. «Da habe ich gemerkt, wie es mir plötzlich persönlich wichtig wurde, dass sie weiterkommen.» Mit diesem jungen Mann habe er auch die E-Mail-Adresse ausgetauscht.

Und was hält Theiler von Schweizern, die Angst haben, Flüchtlinge aufzunehmen? «Ich kann es verstehen, aber nicht nachvollziehen. Oder nachvollziehen, aber nicht verstehen.» Wieder ein richtiger Theiler-Satz. Jetzt gehe es bloss darum, mögliches Leid zu verringern. «Ich wünsche mir, dass sich Menschen mehr von ihrem Herzen als von Angst leiten lassen.» Theiler wird noch mal gehen. Im Winter, wenn es kalt und regnerisch wird. Dann wird er seinen Bus vollpacken und wieder dorthin fahren, wo es dringend Hilfe braucht.

Kein Zweifel.

Artikel erschienen am 21. September 2015 in der SonntagsZeitung.

Bild: René Ruis

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