In der Türkei ist die Welt schon untergegangen

Vor fast zwei Jahren spazierte ich durch Bodrum, wo auch dieses Bild entstanden ist. Die Leute klagten über ihre Stadt, wie alle Menschen in der Welt über ihre Städte klagen. Doch sie strotzten vor Zuversicht, vor Tatendrang, vor Lebensfreude und vor Zukunftsvisionen. Heute sieht ihr Land total anders aus als noch vor zwei Jahren. Mein Kommentar zur aktuellen Lage.

Lieber Erdogan auf die Finger schauen, als sich auf Trumpokalypsen zu versteifen

Seit Donald Trumps Wahlsieg ist die Welt damit beschäftigt, ihre Wunden zu lecken. Das überraschende Resultat jagte eine Schockwelle durch Politik und Medien. Die Demokratie wurde infrage gestellt, die Neuausrichtung der politischen Linken und der moderaten Rechten gefordert, der Weltuntergang jenseits des Atlantiks prophezeit. Die Vorstellung, dass der vulgäre Casinobesitzer mit der orangeblonden Haartolle ins Weisse Haus einzieht, wurde zum Symbol des Niedergangs der demokratischen Welt. Wenn er regiert, dann droht die Trumpokalypse, sind sich viele einig.

Dabei ist viel näher von uns die Welt bereits untergegangen. In der Türkei herrscht Ausnahmezustand. Meinungsfreiheit, Rechtsstaat, Frauenrechte verschwanden über Nacht wie eine Kreidezeichnung in den ersten Minuten eines Sommerregens. Was wir von Trump befürchten, hat Erdogan längst vollbracht.

Der Sündenbock für die Säuberung

Letzte Woche hat das türkische Innenministerium über 350 Vereine verboten, viele davon engagierten sich für die Rechte von Minderheiten, Frauen und Kindern. Seit dem versuchten Putsch im Juli liess Erdogan Zehntausende verhaften. Er wirft ihnen vor, mit dem Exiltürken Fethullah Gülen unter einer Decke zu stecken. Dieser hat zwar alle Vorwürfe, die Unruhe angezettelt zu haben, abgestritten. Trotzdem spannt ihn Erdogan als Sündenbock für seine Säuberungsaktionen ein. Am Freitag liess er über hundert Akademiker verhaften. Wer sich regierungskritisch äussert, muss mit Konsequenzen rechnen. Jeder Journalist und Schriftsteller wisse das, sagt die türkische Autorin Elif Shafak im Interview: «In den Hinterköpfen spukt immer ein bisschen Selbstzensur.»

Shafak sorgt sich um die Zukunft der Frauen in der Türkei. Diese würden noch mehr unter dem Schwächeln des Rechtsstaats leiden als die Männer. Wie recht die Schriftstellerin hat, bewies Erdogans islamischkonservative AKP gestern. Die Partei stellte ein neues Gesetz vor, das sexuellen Missbrauch an Minderjährigen legalisieren könnte. Wenn Männer ihre Opfer nach der Tat heiraten, könnten sie ihrer Strafe entgehen. Frauenrechtler protestieren öffentlich dagegen. Sie brauchen viel Mut. Wie alle Journalisten, Künstler oder eben Schriftstellerinnen wie Elif Shafak, die Erdogan tadeln. Ihr Leiden ist im Hier und Jetzt. Sie zu unterstützen, sollte höchste Priorität haben.

Flüchtlingsdeal darf Europa nicht erpressen

Kürzlich veröffentlichte der deutsche «Spiegel» einen Gastbeitrag der Erdogan-kritischen Zeitung «Cumhuriyet». Zahlreiche ihrer Journalisten wurden bereits verhaftet oder mussten ins Exil flüchten. Solche Aktionen zeigen Solidarität und benennen die Probleme am Bosporus.

Erdogan ist längst so geworden, wie wir uns Trump in seiner schlimmsten Version ausmalen: ein Despot. Nicht klammheimlich, sondern mit Tamtam. Doch Europa hält sich die Ohren zu. Eine vergebene Chance, denn die Türkei will noch immer zu Europa gehören. Damit könnte man Druck aufsetzen, doch viele befürchten, dass die Türkei bei zu harter Kritik den Flüchtlingsdeal kippen würde.

Es ist eine Gratwanderung. Als geografische und kulturelle Nahtstelle zwischen Balkan, arabischem Raum und Eurasien wird die Türkei immer wichtiger. Wir brauchen sie, um globale Herausforderungen wie Flüchtlingskrise oder Terrorbekämpfung zu bewältigen. Europa darf sich die Türkei nicht zur Feindin machen, doch es muss bei ihren Fehlern hart bleiben. Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

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