Unter #SchweizerAufschrei offenbart sich der weitverbreitete Sexismus
Eine Hand berührt Lucias Haare. «Mach doch mal die Beine breit», zischt er ihr zu. Sein Kollege grölt laut.
Im Zelt angekommen, nahm er Petras Hand und legte sie auf seinen erigierten Penis. Sie war 14-jährig, er doppelt so alt.
Selina kämpft sich durch die Menschenmenge am Hauptbahnhof Zürich. Plötzlich spürt sie Finger auf ihrer Brust. Der Mann zieht den Arm wieder zurück und läuft an ihr vorbei.
Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei haben diese drei Frauen ihre Erlebnisse geteilt. Viele andere, und auch einige Männer, haben es ihnen gleichgetan. Der Hashtag jagt immer noch durch die sozialen Medien. Die Geschichten berichten von Grenzüberschreitungen. Von ungewollten Berührungen. Von anzüglichen Kommentaren. Von erniedrigenden Situationen im Alltag.
Der Auslöser war eine Recherche der SonntagsZeitung: Am letzten Sonntag berichteten wir, dass nur jeder dritte Vergewaltiger ins Gefängnis muss. Darauf reagierte SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler. In einem Interview mit dem Regionalsender TeleBärn sagte sie vor einer Woche, dass «naive Frauen» eine Mitschuld hätten, wenn sie vergewaltigt würden. Denn sie würden fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen, ein bisschen mitmachen «und dann doch nicht wollen». Geissbühler relativierte diese Aussagen später, doch der Aufschrei war programmiert.
Es begann um 17.51 Uhr am Mittwochabend. Franziska Schutzbach, eine Genderforscherin an der Universität Basel, tippte: «Langsam Zeit für einen Schweizer Aufschrei: Der Typ, der mich als 14-Jährige im Wald verfolgte und mir an die Brüste griff.»
Sexuelle Belästigung wird als normal wahrgenommen
Schutzbach plante die Aktion mit drei anderen Aktivistinnen. Die Frauen wollten damit auf die Aussagen Geissbühlers reagieren, doch auch auf das Video von Donald Trump, in dem er sexuelle Gewalt verharmlose. Die Macht in der Gesellschaft sei systematisch ungleich verteilt, sagt Schutzbach: «Wir müssen über Feminismus reden.» Nicht Einzelne seien Schuld, es sei vielmehr ein gesellschaftspolitisches Thema.
Schutzbach beschäftigt sich auch beruflich mit diesen Fragen: «Studien zeigen, dass junge Frauen sexuelle Belästigung als normal anschauen.» In diesem Bereich hätten viele Frauen ein weniger star-kes Unrechtsbewusstsein als bei anderen Themen: «Sie schränken sich freiwillig selbst ein, um sexueller Gewalt aus dem Weg zu gehen.»
Wenn sie vom Ausgang nach Hause kommen, machen junge Frauen einen Umweg, damit sie nicht durch die Unterführung müssen. Wenn ihnen nachts ein Mann entgegenkommt, wechseln sie die Strassenseite. Wenn sie im Club angesprochen werden, sprechen sie vom Partner, den es gar nicht gibt, weil sie wissen, dass ein «Nein, kein Interesse» nicht immer akzeptiert wird.
Mit ihrer Aktion will Schutzbach zeigen, dass Sexismus im Alltag nicht normal ist. Und sie will eine Debatte anstossen: «Die Schweiz ist ein Entwicklungsland in Sachen Geschlechterpolitik.» Man habe in der Schweiz die letzten Jahre vor allem über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesprochen, aber: «Auch Sexualität ist politisch!»
Einige Politikerinnen haben mitgemacht beim «Aufschrei». Sie zeigen, dass Sexismus auch vor den Türen des Bundeshauses nicht haltmacht. Die SP-Nationalrätin Min Li Marti twitterte, dass ein Ratskollege ihr sagte, das Thema sei halt kompliziert, vielleicht könne ihr das ihr Mann (der Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli) erklären. Ihre Parteikollegin Mattea
Meyer beteiligte sich ebenfalls: «Die Ratskollegen, die dich kichernd fragen, wann es Nacktbilder gebe von dir.» Ihr Tweet löste entrüstete Kommentare aus. Sie solle sich besser mit ihrer politischen Arbeit beschäftigen, als sich im Internet wichtigzumachen, schreibt ein User namens «Rockstr». Viele pflichten ihm bei. Sie müsse die Namen der Ratskollegen öffentlich machen, um zu beweisen, dass ihre Geschichte stimme, schreiben sie.
Meyer ist damit nicht alleine. Viele wurden aufgefordert, mehr Details preiszugeben, weil sonst alles erfunden sein könnte. Auch Beschimpfungen und Drohungen machten die Runde: «Fick dich, du frustrierte Männerhasserin!», heisst es, oder: «Wenn ich deine Fotos ansehe, lässt du dich wohl nur von deinem Hund vögeln.» Auch Schutzbach wurde gedroht: «Ich werde dich in alle Löcher ficken.» Oft lese sie die Kommentare gar nicht, sagt sie. Die Mitinitiantin der Aktion, Anne-Sophie Keller, hat noch ein Rezept. Sie recherchiere, wer hinter den Kommentaren stecke, und melde dies dem Arbeitgeber: «Wenn sie noch jung sind, auch den Eltern.» Doch die Hassbotschaften lassen die Frauen nicht kalt, sagt Schutzbach: «Jede Beschimpfung ist wie ein kleiner, psychologischer Schock.»