Schweizer opferten ihr Weihnachtsfest, um auf der Insel Lesbos Flüchtlingen zu helfen
Es stinkt nach verbranntem Plastik. Frierende Kinder wärmen ihre Hände an den improvisierten Feuern aus Abfall. Es ist die einzige Wärmequelle für Tausende Flüchtlinge, die im Camp Moira auf Lesbos keinen Platz mehr finden. «Man muss es sich wie die Hölle vorstellen», sagt Rahel Herzog, 53, zu den Szenen vor dem Registrierungslager. Sie ist eine von rund 30 Schweizerinnen und Schweizern, die zurzeit auf Lesbos sind. Statt daheim Weihnachten zu feiern, sind sie auf die griechische Insel geflogen, um Flüchtlingen zu helfen.
«Ich bin jemand, der gerne handelt», sagt Herzog. Schon in den Monaten zuvor hatte sie Spenden gesammelt. Über die Festtage schloss sie ihre Künstleragentur in Cham ZG und reiste in den Süden. Im Gepäck: 40 Kilogramm Kinderkleider. «Die Menschen kommen pflotschnass und durchgefroren an», sagt Herzog. Schon am Strand verteilt sie jetzt Schuhe und Socken und wickelt die frierenden Flüchtlinge in warme Decken.
Die Not auf der Insel ist gross. Freiwillige aus ganz Europa engagieren sich. Zu tun gebe es viel, sagt Herzog: «Gestern bin ich um 6 Uhr aufgestanden und bis heute Morgen um 5.30 Uhr auf den Beinen gewesen.» Die Freiwilligen würden einen «Wahnsinnsjob» machen:
«Jeder will möglichst gut und schnell helfen.»
Sie arbeite mit einem Griechen zusammen, der sein Geschäftsleben in Singapur aufgegeben habe, um auf Lesbos zu helfen: «Ein moderner, bescheidener Held.»
Schweizer betreiben ein Teehaus im Flüchtlingscamp
Die Schweizer auf Lesbos haben sich nicht organisiert, sie sind privat nach Griechenland gereist. Dort trafen sie den Münsinger Michael Räber, der schon seit Monaten vor Ort ist. Die Kommunikation und Koordination hier läuft über Facebook, sagt Herzog: «Über Chats erfahren wir, wo es uns am meisten braucht.» Es gebe keine klare Aufgabenzuteilung: «Jeder hilft, wo es brennt.»
Einige bauen Zelte auf, andere warten bei der Brandung auf die ankommenden Boote. Eine Gruppe Schweizer nennt sich «The Wild Lemon Team» und betreibt ein Teehaus. «Dort wärmen sich die Leute auf», sagt Herzog. Wieder andere würden den Strand reinigen.
«Es stapeln sich Tausende Schwimmwesten.»
Herzog kam allein in Griechenland an. Doch sie trifft auch Schweizer wie ein junges Paar aus Biel, das mit dem Velo angereist ist: «Ich lernte sie am Strand bei einem Fondue über dem Feuer kennen.» Viel Zeit zum Entspannen blieb nicht: «Kurz darauf mussten wir davoneilen, weil neue Boote in der Dunkelheit ankamen.»
Die Insel ist gebeutelt: 60 000 Einwohner haben fast eine Million Flüchtende vorbeiziehen sehen. Auch die Einheimischen würden viel leisten, sagt Herzog: «Ich hoffe inständig, dass viele Schweizer auch künftig hier in die Ferien gehen.» Es sei wichtig, dass der Tourismus wieder in Schwung komme.
Weihnachten bekommt eine ganz andere Bedeutung
Am Weihnachtsmorgen kenterte ein Holzboot auf dem Weg nach Lesbos. Mindestens 18 Menschen sind dabei ertrunken, ein Baby überlebte. Im Jahr 2015 haben über 3000 Menschen ihr Leben im Mittelmeer verloren.
Anders als im Sommer erwartet, kommen immer noch viele Flüchtlinge mit dem Boot nach Europa –, zu viele, um sie alle zu registrieren. Auf Lesbos müssen Menschen aus Nordafrika warten, nur Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten kriegen im Moment einen Stempel. Ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen vor Ort bezeichnet die Situation als «bedenklich». Junge Algerier und Marokkaner seien frustriert, weil sie seit Wochen auf Lesbos festsitzen. Vor vier Tagen habe es einen lauten Protest gegeben.
Auch Herzog hat diese Situation im Camp beobachtet: «Dort werden Menschenrechte verletzt.» Viele müssten im Freien schlafen und hätten keine trockenen Kleider: «Es scheint keinen Plan für sie zu geben.» Diese Flüchtlinge würden sich zweitklassig behandelt fühlen, sagt Herzog. Viele seien am Ende ihrer Kräfte:
«Wir haben zwei Frauen geholfen, die vor Erschöpfung nicht einmal mehr aufstehen konnten.»
Wenn die Leute auf Lesbos ankommen, sind sie erleichtert, sagt Herzog. «Familienväter brechen in Tränen aus, weil eine Last von ihnen abfällt.» Doch sie wüssten nicht, dass ihre Reise erst beginnt. Ihre Zukunft sei unsicher: «In einem Europa, das diese Menschen nicht will.» Herzog trifft die Leute nur kurz, bevor sie weiterziehen: «Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, nicht bloss eine Zahl.»
Über die Weihnachtstage sass Herzog in einem Flüchtlingscamp: «Für fünf Euro kriegten wir einen Znacht.» Dass sie Weihnachten verpasst hat, ist für sie nicht schlimm: «Die Familienfeier haben wir vorgezogen.»
Vorgestern Nacht habe sie ein einjähriges Flüchtlingskind auf dem Schoss gehabt, sagt Rahel Herzog. «Auf der Fahrt zum Camp habe ich seine eiskalten Füsschen gewärmt.» Als sie das Baby aus dem Auto hob, habe es ihr einen Kuss gegeben: «Das ist Weihnachten für mich.»