«Treibhaus der Zukunft oder Pension für Ruhebedürftige»

Publizist und Philosoph Ludwig Hasler über Freiheit und Sicherheit

Anfang Jahr traten zahlreiche neue Regeln in Kraft. Brauchen wir diese?

Das hängt vom Weltbild ab. Gilt die Welt als Pension für Ruhebedürftige, kann es nie genug Regelung ­geben. Gilt sie als Treibhaus für die Zukunft, gibt es längst zu viele. Sicherheit oder Freiheit? Das ist die Frage. Und die Antwort lautet: mit Sicherheit weniger Freiheit.

"Gerade Selbstverwirklichung will das Regel-Korsett" - Ludwig Hasler Bild: Youtube Screenshot / SoZ
“Gerade Selbstverwirklichung will das Regel-Korsett” – Ludwig Hasler Bild: Youtube Screenshot / SoZ

Was bedeuten solche Regeln für unsere persönliche Freiheit?

Zunächst: ohne Regeln keine Freiheit. Weil meine Freiheit ihre Grenze an der Freiheit der andern hat. Ohne Fairness kein Spiel. Wäre es im Fussball nicht verboten, den Stürmer von hinten umzuhauen, wer wollte dann noch einen genialen Pass schlagen? Ähnlich produktiv wirken Grundregeln auf allen Arealen der Gesellschaft. Die Kehrseite lautet: je dichter die Regelung, desto tödlicher für die Freiheit. Also sollten wir jede neue Regel nicht nur an maximalen Schutzbedürfnissen messen, sondern nach dem Kriterium beurteilen: Eröffnet sie der Freiheit ­produktive Spielräume – oder engt sie die nur ein?

Neu darf man mit dem Auto nicht mehr rückwärtsfahren. Machen solche Regeln Sinn?

Rückwärtslaufen darf ich weiterhin? Bei manchen Verordnungen denke ich: Okay, es steht uns frei, das Land narrensicher zu machen – bloss sollten wir uns dann nicht wundern, wenn es von Narren wimmelt. Meist profitiert auch die Sicherheit gar nicht; sobald sich Menschen auf der sicheren Seite fühlen, gehen sie neue Risiken ein.

Was entgeht uns denn durch diese Flut von ­Verordnungen?

Schwung, Dynamik, Initiative, Innovation, Pioniergeist. «Ohne Ordnung kann nichts bestehen», sagte Albert Einstein, «ohne Chaos aber kann nichts entstehen». Der evolutionäre Drive entspringt der Lücke der Ordnung. Alles regeln? Daran denkt, wer sein Ende nahen sieht.

Würde ohne all diese Regeln in unserer ­Gesellschaft nicht pures Chaos herrschen?

In Holland räumte eine Stadt den Schilderwald samt Ampeln ab. Herrscht deshalb Chaos? Nein, es gibt weniger Unfälle! Warum? Die Leute haben wieder Augen und Ohren, sie sehen den Fussgänger vor dem Kühler, statt auf die Ampel zu glotzen.

Mit wie viel Freiheit können wir umgehen?

Das ist eine Frage des Trainings. Pippi Langstrumpf schafft sehr viel Freiheit – prima, oder? Weil sie früh lernte, sich selber zu helfen. Heute ersparen wir ­Kindern dieses Freiheitstraining. Umso widerspruchsloser funktioniert dann staatliche Betreuung.

In den 70er-Jahren kämpfte die Linke für weniger Staat und mehr Freiheit. Jetzt ist es die Linke, die für mehr Regulierung einsteht.

Regulierung erhält einen moralischen Touch: Jede «Gerechtigkeitslücke» soll geschlossen, jede Ungereimtheit gebügelt werden. Hauptsache, sauber. Wer nur noch saubermacht, hat nichts mehr vor. Zukunft ist ohne Ungereimtheit nicht zu haben.

Neue Regeln, die mehr Ordnung und Sicherheit schaffen, scheinen den Zeitgeist zu treffen.

Es ist der «Geist» alternder Wohlstandsgesellschaften. Er will halten, was er hat, fürchtet Veränderung. Also sichert er den Status quo ab. Ist mehr logisch als schlau. Noch der wasserdichteste Status quo rostet.

Wir haben heute einen so hohen Lebensstandard wie noch nie. Es geht nicht mehr ums Überleben, sondern um die Selbstverwirklichung. Trotzdem schränken wir uns mit diversen Regeln selber ein. Warum?

Weil gerade Selbstverwirklichung das Regelkorsett will. Seit wir so genau auf das Selbst hinsehen, sehen wir vieles, was zu verbessern wäre. Wer aber sagt, was besser ist? Es sind Standards wie der Body-Mass-Index, Schritte-Soll, Fettverbot et cetera. Nur wenige arrangieren sich frei mit dem ganz normalen Wildwuchs des Lebens.

Ist es die Angst vor der Eigenverantwortung?

Eher banaler: Es ist so bequem, unmündig zu sein. Das wusste schon Immanuel Kant. Freiheit ist anstrengend.

Dieses Interview erschien am 3. Januar 2016 in der SonntagsZeitung.

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