Die da unten

Die da unten Als Feind des Establishments zum politischen Erfolg

Der Brexit in Grossbritannien, Donald Trumps Einzug ins Weisse Haus und die erzwungene Abdankung Matteo Renzis waren ein Stoss ins Herz der etablierten Parteien. Sie haben es nicht kommen sehen, sie konnten es nicht verhindern. Parteien, die damit werben, nicht wie sie zu sein, haben sie übertrumpft.

Doch das war erst der Anfang. Im kommenden Jahr wird die Politik Europas neu ausgerichtet. Gewählt wird 2017 Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Werden die Anti-Establishment-Parteien ihren Siegeszug fortführen können?


90 %
der Belgier gehen wählen. Grund dafür ist eine Wahlpflicht.

1/3
der Briten geben keine Stimme an der Urne ab.

55 %
der Franzosen bestimmen, wer ihr Land regiert. Also nur die Hälfte.

27
Jahre ist es her, dass mehr die Hälfte der Schweizer wählten.


Nur rund die Hälfte der Bevölkerung in den europäischen Ländern gaben an, ihrer Politiker und der Regierung zu vertrauen. Dies zeigt die Umfrage der PR-Agentur Edelman. Sie befragte 33 000 Menschen in 28 Länder und bewertete ihre Aussagen in einem “Trust Barometer”. Dieses zeigt den weltweiten Politikverdruss, der seit mehreren Jahren konstant ist.

Je informierter und gebildeter, desto mehr vertrauen Menschen den Autoritäten. Neu ist aber eine wachsende Vertrauenskluft zwischen der gut informierten und der weniger gut informierten Bevölkerung. Immer mehr der weniger Gebildeten verlieren das Vertrauen komplett.

Auch in der Schweiz.


45 %
der Schweizer mit tiefem Bildungsstand stimmen der Aussage zu, die Regierung kümmere sich nicht darum, was Menschen wie sie denken.

66 %
der Schweizer vertrauen dem Parlament.

43 %
der Schweizer haben noch Vertrauen in Parteien.

48 %
der Schweizer vertrauen den einzelnen Politikern.

Daten: Erhebung des Schweizerische Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften Fors


Von diesem Misstrauen profitieren Anti-Establishment-Parteien in ganz Europa. Sie fordern mehr Macht dem Volke. Und stellen sich demonstrativ gegen die politische und gesellschaftliche Elite. In den letzten Jahren boomten solche Protestparteien. Einige wurden neu gegründet, andere erhielten Aufwind.

Die Karte zeigt eine Auswahl erfolgreicher Anti-Establishment-Parteien in Europa. Für Informationen auf das jeweilige Blitz-Symbol klicken.

Amsterdam Ost, ein Industriegebiet, ein Hochhaus zwischen Dönerladen und Parkhaus. Hier, im dritten Stock, planen zwei Niederländer den Kampf gegen das Establishment. Sie trinken schwarzen Kaffee aus Pappbecher und tüfteln an einem neuen politischen System.

Jan Dijkgraaf ist Kolumnist, Bart Nijman betreibt einen Satire-Politblog. Sie beide sind bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Mit ihrer Partei Geenpeil wollen sich die Regeln der politischen Gepflegtheit brechen. Und so in den Wahlen im März punkten. Ihr grosses Vorbild: Die Schweiz.

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Jan schnaubt, wenn man ihn fragt, was ihn an Politikern stört: Alles! Er zieht die Mundwinkel nach unten. Und kneift die Augen zu.

Er gibt den etablierten Parteien die Schuld, dass in den Niederlanden der Rechtspopulist Geert Wilders bei den Umfragen führt. Und dass er trotz seinen extremen Forderungen wie etwa ein Koranverbot wachsen kann.

Jan sagt, der Fehler des Establishments sei eine falsche politische Korrektheit, vor allem in Migrationsfragen, und ein Parlament, das nicht mehr auf die Sorgen der Bürger hört.

Die Leute hier waren noch nie so wütend auf die Politik wie heute (Jan Dijkgraaf)

Barts Fingerspitzen trommeln auf dem Holztisch. Eine Viertelstunde hat er gerade über die Fehler etablierter Parteien gepoltert – er würde wohl noch länger, würde man ihn nicht stoppen.

Jan nickt. Es sei ein sich selbst dienender Club geworden: “Die Kluft zwischen Politik und Bürger wird immer grösser.” Politiker würden nicht auf die Leute hören und auch nicht mehr für ihre Interessen kämpfen. Stattdessen würden Positionen beliebig ausgetauscht: “Wie bei einem Quartett.”, sagt Jan. Er runzelt die Stirn, rückt die Brille zurecht.

Jan Dijkgraaf über die Fehler der politischen Elite

Der Name “Geenpeil” kommt vom Prinzip des Peilgeräts und bedeutet, dass die Partei in keine klare Richtung zeigt. Keine Positionen, kein Parteiprogramm. Ausser: “Der Wähler ist der Chef.” Damit will die Partei punkten. Die gewählten Abgeordneten werden im Parlament stimmen, wie es die Parteimitglieder via App demokratisch entscheiden.

Nijman ist überzeugt, dass die Bevölkerung mehr mitbestimmen will. Mit dieser Strategie will er für Geenpeil Wähler an sich binden. Er hofft, dass einige frustrierte Niederländer ihn statt für den Rechtspopulisten Geert Wilders wählen.

Bart Nijman über das Potential, Wähler von Wilders wegzuschnappen

Die niederländische Presse lacht über Geenpeil. Es sei eine Eintagsfliege oder reine Selbstdarstellung Dijkgraafs und Nijmans.

Piet Hein Donner, der Vize-Präsident des Raad van de Stade, dem Beratungsorgan der Regierung, nannte Geenpeil “das Ende der Demokratie”. Das vorgeschlagene System würde nicht funktionieren, weil der Wille der Bevölkerung sich zu schnell ändern könnte.

Nichts garantiert, dass morgen nicht der umgekehrte Standpunkt eingenommen würde. (Piet Hein Donner)

Ein interessantes “Gedankenexperiment” nannte es Ger Groot, Kolumnist der linken Tageszeitung “Trouw”, doch sei es in der Praxis nicht anwendbar. Verhandeln und Kompromissfindung gehöre zum politischen Prozess.

Dafür brauche es Politiker, die nicht das exakte Abbild des Volkes widerspiegeln, sondern im Sinne der Bevölkerung die beste Lösung finden.

Auch Dijkgraaf und Niijman glauben nicht daran, dass das Volk oder die Mehrheit immer Recht hat. Doch meistens.

Jan Dijkgraaf und Bart Nijman über die Macht der Mehrheit

Das grosse Vorbild der Partei: Die Schweizer Demokratie. Fragt man als Journalistin aus der Schweiz nach den Gründen, reagieren Jan und Bart mit Kopfschütteln: “Ihr seid doch das beste Beispiel, dass es funktioniert!”.

Die Schweiz habe ein gutes Selbstvertrauen, sagt Bart: “Ihr seid Fan von eurem eigenen Land, ihr habt einen Bezug zu eurem eigenen Land.”

Die Schweizer wären glücklich, weil die Politik sie aktiv einbezieht. Genau das wollen die zwei auch für die Niederlande erreichen. Im Video erklären die Gründer von Geenpeil, warum für die Schweiz ihr grosses politisches Vorbild ist.

Bart und Jan sind überzeugt das Richtige zu tun: “Die Bevölkerung muss wieder mehr Macht bekommen.” Die Menschen sollen eingebunden sein, gefragt werden, mitgestalten können. “Die Schweiz ist das beste Vorbild, dass es funktioniert”, sagt Bart. Geenpeil liess sich durch die Schweiz inspirieren: “Die Bevölkerung wird ernst genommen.”

Das sei Politik im 2017: “Es ist nicht mehr so, dass eine schlaue Elite das Land regiert, und die dumme Barbaren auf dem Land arbeiten müssen.” Wir würden in einer zivilisierten Welt leben, wo die Menschen ernst genommen werden müssen: “Das macht die Schweiz.”

Doch wie steht es überhaupt um das Vertrauen in die Politik in den Niederlanden. Das erzählen die Bewohner Amsterdams in diesem Video.

(Untertitel sind vorhanden, auf das Rädchen klicken)

Der ehemalige Nationalrat und Demokratieexperte Andreas Gross setzt sich für mehr Demokratie in Europa ein, auch in den Niederlanden. Für ihn ist Geenpeil Ausdruck der Krise der Repräsentanz, wie sie in vielen Ländern zu beobachten sei: “Viele Bürger fühlen sich mehr schlecht als recht vertreten durch ihre Repräsentanten. Sie fühlen sich ihnen ausgeliefert und selber ohnmächtig.”

Doch wären die Niederländer überhaupt bereit, mehr Verantwortung und politische Macht zu übernehmen?

Auf den Strassen Amsterdams sind nicht viele begeistert von der Idee Geenpeils. Zu viel Macht dem Volke habe auch Gefahren.

“Hätten wir das Schweizer System, wären die Niederländer nicht so wütend”, sagt Bart. Mit Geenpeil will er einen Schritt in diese Richtung machen.

Einer der sich für mehr direkte Demokratie in Europa einsetzt, ist der ehemalige SP-Nationalrat Andreas Gross. In seinem Buch “Die unvollendete direkte Demokratie” untersuchte Gross, ob sich die Schweizer Demokratie in andere Länder exportieren lässt. Es wäre möglich, einzelne Elemente aufzunehmen “und in einer modernisierten Form in den Niederlanden zur Diskussion zu stellen”, sagt Gross.

Man müsse die Schweiz als riesigen Schatz von Erfahrungen und Einrichtungen zur Demokratie sehen: “Ein direktdemokratischer Steinbruch, aus dem man einiges herausbrechen und neu einbauen kann.” Gross nimmt die Schweiz in die Pflicht. Die Krise der Demokratien hätte vermieden werden können, hätte die Schweiz ihr System verfeinert und dem Ausland zugänglich gemacht: “Heute gibt es in Europa viele frustrierende Formen von Demokratie”.

Doch wie viel wissen die Niederländer überhaupt über die Schweizer Politik und Demokratie?

Geenpeil hat als satirischer Blog angefangen. Zur Überraschung und Empörung vieler, drängen sie nun aufs politische Parkett. Den Werdegang der Protestpartei erzählt diese Timeline.