Tankred Stöbe rettete 1400 Flüchtlingen auf dem Mittelmeer das Leben
Plötzlich schrillen die Alarmglocken. Noch 30 Minuten. Tankred Stöbe kämpft sich an der schaukelnden Leiter aufs Deck. Er hastet zum eisernen Schrank. Desinfektionsmittel, Druckverbände, Schwimmwesten: alles bereit.
Jetzt starrt der 46-jährige Arzt raus auf die See. Die dunklen Wellen tanzen. Stöbe greift zum Teleskop. «Die Anspannung springt in diesem Moment von null auf hundert», sagt der Notarzt über die Minuten, bevor seine Crew ein Flüchtlingsboot in Not erreicht. Stöbe kam kürzlich vom Einsatz auf dem Rettungsschiff Dignity 1 der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières (MSF) zurück. In vier Wochen hat er 1400 Menschenleben gerettet.
Trotz des Winterwetters wagen immer noch viele Asylsuchende die Reise über das Mittelmeer. Das zeige ihre pure Verzweiflung, sagt Stöbe. Die Chance zum Überleben sei auf der Überfahrt höher, als wenn sie zu Hause blieben: «Das ist wie russisches Roulette.»
Über 3000 Flüchtlinge sind 2015 ertrunken, mehr als im Vorjahr. Die Dunkelziffer ist hoch. MSF hat vorgestern Freitag beschlossen, mit Greenpeace eine neue Aktion zwischen Griechenland und der Türkei zu starten. Auch vor der libyschen Küste kreuzt weiterhin ein MSF-Schiff.
Die Bedingungen seien prekär gewesen, sagt Stöbe.
«Die Flüchtlinge liegen stundenlang in Salzwasser, Urin und Benzin.»
Wenn sie an Bord kletterten, musste er sekundenschnell entscheiden, wer am dringendsten Hilfe benötigte.
Der Deutsche erzählt gern, er spricht schnell und effizient. Wenn es um seine Mission geht, will er, dass ihn sein Gegenüber versteht. Doch alle paar Minuten zerreisst ein Witz diese Ernsthaftigkeit, er lacht laut und herzhaft.
Seine Empathie und Eloquenz halfen Stöbe auch auf dem Boot, um das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen. Nur so könne er die bestmögliche Hilfe leisten: «Manche sind nur erschöpft, aber viele sind schon krank und verletzt bei der Abreise.»
Während seines Einsatzes starb ein junger Somalier an akutem Herzversagen. Der Teenager wurde in Libyen schwer misshandelt, auf dem Schiff brach er zusammen. «Natürlich berührt mich das, sonst müsste ich sofort den Beruf wechseln», sagt der Rettungsarzt. Jedes gerettete Leben gebe ihm ein grosses Glücksgefühl. Besonders gefreut habe ihn, wenn er Kinder aufnehmen konnte. «Die Mütter schliefen sofort erschöpft ein», sagt Stöbe. Doch die Kleinen hätten sich einmal geschüttelt und dann sogleich an Deck gespielt: «Wir mussten aufpassen, dass sie nicht von Bord purzelten.»
Europäische Wehwehchen vs. existenzielles Überleben
Stöbes Crew war international: eine griechische Logistikerin, eine tschechische Hebamme, die Krankenschwester kam aus Norwegen und der Koch aus Spanien. «Für niemanden gab es Privilegien», sagt Stöbe. Als promovierter Notarzt schrubbte er auch mal die Schiffstoilette.
Seit 2002 reist Stöbe als «Arzt ohne Grenzen» dorthin, wo es brennt. Nepal, Gazastreifen, Syrien, Pakistan sind nur einige der Gebiete. In seinem anderen Leben in Berlin ist Stöbe Leseratte und Kulturliebhaber. Doch die Zeit, in der er durch Bücher blättert und in Konzertsesseln sitzt, ist rar. Stöbe schuftet Überstunden, um die Auslandseinsätze zu ermöglichen.
«Die Not ist ein Imperativ an mich», sagt Stöbe. «Wir sind hier so unglaublich privilegiert.» Er wolle etwas von sich geben und bekomme viel zurück: «Die Geschichten der Menschen helfen mir, die grossen Fragen der Gegenwart zu verstehen». Auch der Spagat zwischen Notfallstation und Krisenregion reize ihn: «Wir bewegen uns zwischen zwei Kontinenten, mit zwei verschiedenen Wertesystemen.» Hier würde jedem sofort geholfen, auf dem Boot helfe er zuerst dem, der es am dringendsten brauche: «Im Vergleich scheinen unsere europäischen Wehwehchen manchmal lächerlich.»
«Vom Sofa aus über Flüchtlinge zu motzen, ist zynisch»
Die Einsätze würden ihn an seine Motivation erinnern, Arzt geworden zu sein, sagt Stöbe. Es gehe dabei um Elementares: «Ein Flüchtling kennt keine Sinnfrage. Für ihn geht es um existenzielles Überleben.» Diese Erkenntnis, für Einfaches dankbar zu sein, wirke sich auch auf seinen Alltag aus: «Jedes Mal, wenn ich in mein Luxusleben zurückkomme, fühle ich mich wie auf Drogen.»
Manchmal wünsche er sich, dass dies auch andere erkennten: «Vom warmen Sofa über Flüchtlinge zu motzen, ist zynisch.» Er hofft, dass Europa endlich ein Konzept finde, damit Flüchtlinge vor Ort Asyl beantragen könnten: «Sie auf dem Weg ertrinken zu lassen, ist inakzeptabel.» Abschottung sei keine Option: «Wir müssen und können den Flüchtlingen helfen. Jetzt müssen wir nur noch wollen.» Weil die Politik versage, müssten Private wie MSF einspringen.
Stöbe weiss, dass sein Einsatz nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist: «Humanitäre Hilfe heisst immer, mit einer hohen Frustration umzugehen.» Er sei kein Weltretter, kein Held: «Wir lösen keine Konflikte, aber wir können das Leben ein bisschen erträglicher machen.»
Lange werden die Flüchtenden nicht mehr ablegen können. Der Seegang werde zu stark, die Wellen zu hoch, sagt Stöbe: «Doch solange noch Boote kommen, sind wir da.»